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Erziehung vor Verdun

Die Referatsgruppe hat mich gebeten, diese drei Textauszüge ins Blog zu stellen, auf die am Montag offenbar besonders Bezug genommen werden soll. Ein Thesenpapier habe ich noch nicht, ich gehe aber vertrauensvoll davon aus, dass es Montag im Seminar ausgeteilt wird.

Die „Katrin“-Arbeitsgruppe hat jetzt eine Inhaltsangabe des Romans mit Textausschnitten erstellt. Sie finden das Dokument hier. Außerdem gibt es zwei neuere Zeitungsberichte – hier und hier – über die Neuveröffentlichung des Romans.

Den Hinweis auf die Frage der Fokalisation in „Heeresbericht“ in der letzten Sitzung fand ich sehr produktiv. Ich habe mir den Roman daraufhin noch einmal genauer angesehen. Der Text arbeitet mit variabler interner Fokalisation; meist ist dabei Reisiger der Wahrnehmungsfokus, aber es tauchen auch andere Fokalisator-Figuren auf. Zudem werden verschiedene Erzähltechniken zur Darstellung von Innenwelt verwendet, vor allem Gedankenzitat und -bericht sowie erlebte Rede, die bekanntlich notorisch schwierig zu identifizieren und zuzuordnen ist.

Beispiele: im ersten „erzählten“ Romankapitel (im Gegensatz zu den Dokumentarteilen), also I.1.5, ist Reisiger Fokus.

„Wo ist denn nun der Krieg, dachte Reisiger. [direktes Gedankenzitat] – Sind wir jetzt an der Front? … ‚Stillgestanden! Augen – rechts!‘
Ein älterer Offizier kommt die Treppe der Veranda herab, jüngere folgen ihm. Aha, der Regimentskommandeur.“ [Erlebte Rede, wird deutlich durch das kolloquiale „Aha“ sowie durch die Verwendung von Präsens zur Kennzeichnung der Wahrnehmungspräsenz Reisigers.]

– Der gleiche Befund für das nächste erzählte Teilkapitel, I.1.7:

„Standort der 2. L.M.K.: ein kleines Dorf südlich Arras. Reisiger tritt mit seinem Kameraden aus dem Garten des Stabsquartiers auf die Straße.
Hier ist kein Krieg. Frauen und Kinder laufen herum, sitzen vor den Haustüren, lachen die beiden Soldaten an, grüßen mit deutschen Brocken ‚Gutten Ahm‘.“ [Wieder wird Reisigers Wahrnehmungspräsenz in dieser Szene durch Präsens als Erzähltempus verdeutlicht, wobei dieses Prinzip im folgenden nicht durchgängig Anwendung findet; das offenbar von Reisiger so gehörte „Gutten Ahm“ kann als erlebte Rede verstanden werden (genau: freie indirekte Wahrnehmung).]

– Das zweite Kapitel (I.2.1) beginnt wieder mit Reisiger als Wahrnehmungsfokus, aber bereits in I.2.2 werden wir mit einem anderen Fokalisator konfrontiert: Hauptmann Mosel.

„Hauptmann Mosel langweilte sich entsetzlich. [Autoritative Erzähleraussage über Mosels Innenwelt; nach Dorrit Cohn „Psycho-Narration“] Langeweile war seine Hauptbeschäftigung seit vier Monaten. [Kann entweder als Erzähleraussage oder als erlebte Rede verstanden werden] Der verfluchte Stellungskrieg! Wo ist eine Betätigung, wie sie anständigen aktiven Offizieren zukommt?“ [Letzteres eindeutig erlebte Rede]

– Das Kapitel I.3.15, das wir uns angesehen hatten, ist von der Fokalisationskonstruktion her doppeldeutig. Reisiger ist am Ende des vorigen Abschnitts aufgefordert worden, sich ans Fernrohr zu setzen. Insofern liegt es nahe, den Erzähleinsatz „Blick durchs Scherenfernrohr“ als *Reisigers* Blick durch das Fernrohr (und nicht allgemein den Blick durchs Fernrohr als solchen) zu begreifen. Dann müßte man das folgende „Du siehst, daß alle Dinge“ usw. wohl als Selbstanrede Reisigers verstehen, das wäre ein ungewöhnlicher Sonderfall von erlebter Rede (freies indirektes Denken). Dafür sprechen Einwürfe wie „Oh, ein Mensch!“, die wohl nur als erlebte Rede verstanden werden können, sowie die Identifikation Reisigers als Wahrnehmungsfokus durch den Erzähler („Reisiger glaubt lebende Geheimnisse entdeckt zu haben“).
Natürlich kann der Leser das inkongruente „du“ aber zunächst auch als Leseranrede des Erzählers verstehen, das ist ein konventioneller Einsatz der zweiten Person singular. Hier wäre die Bedeutung: das sähest du, lieber Leser, wenn du durch so ein Fernrohr blicktest. Dann könnte man „Oh, ein Mensch!“ als fingierte erlebte Rede eines imaginierten Adressaten verstehen, der schließlich aber doch mit Reisiger identifiziert wird. Das muß dann natürlich höchst verwirrend wirken.

Organisatorisches

Zunächst einmal natürlich ein frohes neues Jahr Ihnen allen!

Dann zwei organisatorische Sachen:
1. Die Sprechstunde am Donnerstag muss ausfallen. Ich bin aber am Freitag ab 11 am Institut. Wenn jemand Gesprächsbedarf hat, möge er/sie sich bitte per Email bei mir melden und einen Termin für den Freitag ausmachen!
2. Für diejenigen KommilitonInnen, die im Rahmen des literaturgeschichtlichen Moduls 9 eine mündliche Prüfung bei mir machen, geht eine Rundmail zur Terminabsprache herum. Wenn Sie die nicht bekommen haben oder ich jemanden vergessen habe, bitte ebenfalls eine Mail an mich schicken!

Des Kaisers Kulis

Solide Informationen zu Plievier bietet, wie so oft, Wikipedia. Wie Renn und Arnold Zweig ist Plievier in den späten zwanziger Jahren überzeugter Kommunist (kommt, anders als Renn und Zweig, aufgrund seiner Erfahrungen in der sowjetischen Besatzungszone später aber wieder vom Kommunismus ab und siedelt sich im Westen an). Ich würde mit Ihnen deshalb gerne an die immer wieder im Seminar angerissene, aber noch nicht wirklich diskutierte Frage nach der politischen Tendenz der Weltkriegsromane anknüpfen. Überlegen Sie sich doch bitte bis Montag, ob und wo Sie in den bisher besprochenen Romanen eine politische Tendenz erkennen konnten.

Das zweite Thema, das ich mit Ihnen besprechen möchte, betrifft die Repräsentation vergessener oder verdrängter Kriegsschauplätze bei Zweig und Plievier: Ostfront und Marine (im Gegensatz zur überrepräsentierten Westfront). Bringen Sie bitte deshalb auch den Grischa nochmals ins Seminar mit. Hintergrundinformationen zum Seekrieg finden sie bei Keegan insbesondere auf den Seiten 301-308, 363-385 und 487-493 oder bei Wikipedia; allerdings ist der Seekrieg hier wirklich enttäuschend kurz dargestellt (das müßte man eigentlich mal ergänzen), was natürlich auch darauf deutet, dass es sich um einen vergessenen Kriegsschauplatz handelt.

Schnee

Wegen der widrigen Witterungsbedingungen muss meine Sprechstunde heute nachmittag ausfallen: ich komme nicht aus Schleußig weg. Wer mich dringend sprechen muss, möge mir bitte eine Email mit Telefonnummer schicken, ich rufe dann zurück.

Frau Horstkotte hat ihre Bibeln und Konkordanzen gewälzt. Ergebnis: der Spruch, den Exzellenz von Lychow da „ins Ungewisse hinein“ zitiert, steht genau so definitiv nicht in der Bibel. Er ist aber eine Kombination verschiedener Dinge, die sehr wohl in der Bibel stehen. Einerseits finden sich im gesamten Alten Testament zahlreiche Anweisungen, den Fremdling gut zu behandeln, und explizite Warnungen davor, das Recht des Fremdlings zu beugen; z.B. 2 Mo 22,20: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken“; 5 Mo 27,19: „Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings beugt!“; Jer 7,5f: „Sondern bessert euer Leben und euer Tun, daß ihr recht handelt einer gegen den andern / und keine Gewalt übt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen“; Sa 7,10: „und tut nicht Unrecht den Witwen, Waisen, Fremdlingen und Armen“.
Andererseits warnt 5 Mo 25,13: „Du sollst nicht zweierlei Gewicht haben“, und in Spr 20,10 heißt es: „Zweierlei Gewicht und zweierlei Maß ist beides dem Herrn ein Greuel“.

Die Geschichte von Belsazars Gastmahl, auf die von Lychow an späterer Stelle anspielt, bildet das fünfte Kapitel des Buches Daniel:
„König Belsazar machte ein herrlches Mahl für seine tausend Mächtigen und soff sich voll mit ihnen. Und als er betrunken war, ließ er die goldenen und silbernen Gefäße herbringen, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel zu Jerusalem weggenommen hatte, damit der König mit seinen Mächtigen, mit seinen Frauen und mit seinen Nebenfrauen daraus tränke. Da wurden die goldenen und silbernen Gefäße herbeigebracht, die aus dem Tempel, aus dem Hause Gottes zu Jerusalem, weggenommen worden waren; und der König, seine Mächtigen, seine Frauen und Nebenfrauen tranken daraus. Und als sie so tranken, lobten sie die goldenen, silbernen, ehernen, eisernen, hölzernen und steinernen Götter. Im gleichen Augenblick gingen hervor Finger wie von eienr Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter auf die getünchte Wand in dem königlichen Saal. Und der König erblickte die Hand, die da schrieb. Da entfärbte sich der König, und seine Gedanken erschreckten ihn, so daß er wie gelähmt war und ihm die Beine zitterten. Und der König rief laut, daß man die Weisen, Gelehrten und Wahrsager herbeiholen solle. Und er ließ den Weisen von Babel sagen: Welcher Mensch diese Schrift lesen kann und mir sagt, was sie bedeutet, der soll mit Purpur gekleidet werden und eine goldene Kette um den Hals tragen und der Dritte in meinem Königreich sein. Da wurden alle Weisen des Königs hereingeführt, aber sie konnten weder die Schrift lesen noch die Deutung dem König kundtun. Darüber erschrak der König Belsazar noch mehr und verlor seine Farbe ganz, und seinen Mächtigen wurde angst und bange. Da ging auf die Worte des Königs und seiner Mächtigen die Königsmutter in den Saal hinein und sprach: Der König lebe ewig! Laß dich von deinen Gedanken nicht so erschrecken, und entfärbe dich nicht! Es ist ein Mann in deinem Königreich, der den Geist der heiligen Götter hat. Denn zu deines Vaters Zeiten fand sich bei ihm Erleuchtung, Klugheit und Weisheit wie der Götter Weisheit. Und dein Vater, der König Nebukadnezar, setzte ihn über die Zeichendeuter, Weisen, Gelehrten und Wahrsager, weil ein überragender Geist bei ihm gefunden wurde, dazu Verstand und Klugheit, Träume zu deuten, dunkle Sprüche zu erraten und Geheimnisse zu offenbaren. Das ist Daniel, dem der König den Namen Beltschazar gab. So rufe man nun Daniel; der wird sagen, was es bedeutet.
Da wurde Daniel vor den König geführt. Und der König sprach zu Daniel: Bist du Daniel, einer der Gefangenen aus Juda, die der König, mein Vater, aus Juda hergebracht hat? Ich habe von dir sagen hören, daß du den Geist der heiligen Götter habest und Erleuchtung, Verstand und hohe Weisheit bei dir zu finden sei. Nun habe ich vor mich rufen lassen die Weisen und Gelehrten, damit sie mir diese Schrift lesen und kundtun sollen, was sie bedeutet; aber sie können mir nicht sagen, was sie bedeutet. Von dir aber höre ich, daß du Deutungen zu geben und Geheimnisse zu offenabren vermagst. Kannst du nun die Schrift lesen und mir sagen, was sie bedeutet, so sollst du mit Purpur gekleidet werden und eine goldene Kette um deinen Hals tragen und der Dritte in meinem Königreich sein.
Da find Daniel an und sprach vor dem König: Behalte deine Gaben und gibt dein Geschenk einem andern; ich will dennoch die Schrift dem König lesen und kundtun, was sie bedeutet. Mein König, Gott der Höchste hat deinem Vater, Nebukadnezar Königreich, Macht, Ehre und Herrlichkeit gegeben. Und um solcher Macht willen, die ihm gegeben war, fürchteten und scheuten sich vor ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen. Er tötete, wen er wollte; er ließ leben, wen er wollte; er erhöhte, wen er wollte; er demütigte, wen er wollte. Als sich aber sein Herz überhob und er stolz und hochmütig wurde, da wurde er vom königlichen Thron gestoßen und verlor seine Ehre und wurde verstoßen aus der Gemeinschaft der Menschen, und sein Herz wurde gleich dem der Tiere, und er mußte bei dem Wild hausen und fraß Gras wie die Rinder, und sein Leib lag unter dem Tau des Himmels und wurde naß, bis er lernte, daß Gott der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will. Aber du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du alles wußtest, sondern hast dich gegen den Herrn des Himmels erhoben, und die Gefäße seines Hauses hat man vor dich bringen müssen, und du, deine Mächtigen, deine Frauen und deine Nebenfrauen, ihr habt daraus getrunken; dazu hast du die silbernen, goldenen, ehernen, eisernen, hölzernen, steinernen Götter gelobt, die weder sehen noch hören noch fühlen können. Den Gott aber, der deinen Odem und alle deine Wege in seiner Hand hat, hast du niht verehrt. Darum wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift geschrieben.
So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-parsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben. Da befahl Belsazar, daß man Daniel mit Purpur kleiden sollte und ihm eine goldene Kette um den Hals geben; und er ließ von ihm verkünden, daß er der Dritte im Königreiche sei.
Aber in derselben Nacht wurde Belsazar, der König der Chaldäer, getötet.“

Und hier die etwas verknapptere intertextuelle Version von Heinrich Heine:

Die Mitternacht zog näher schon;
In stiller Ruh‘ lag Babylon.

Nur oben in des Königs Schloß,
Da flackert’s, da lärmt des Königs Troß.

Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.

Die Knechte saßen in schimmernden Reihn,
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.

Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht‘;
So klang es dem störrigen Könige recht.

Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.

Und blindlings reißt der Mut ihn fort;
Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.

Und er brüstet sich frech, und lästert wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.

Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.

Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.

Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.

Und er leert ihn hastig bis auf den Grund,
Und rufet laut mit schäumendem Mund:

»Jehova! dir künd ich auf ewig Hohn –
Ich bin der König von Babylon!«

Doch kaum das grause Wort verklang,
Dem König ward’s heimlich im Busen bang.

Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.

Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kam’s hervor wie Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.

Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knien und totenblaß.

Die Knechtenschar saß kalt durchgraut,
Und saß gar still, gab keinen Laut.

Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.

Belsazar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.

Nochmal als pdf

Hier kommt das Thesenpapier noch einmal als pdf für diejenigen, die kein Word haben.

Arnold Zweig

Die Referatsgruppe hat mir jetzt das Handout für das Grischa-Referat geschickt: hier.

Eine kleine Erinnerung für diejenigen, die mir noch nicht die Kurzevaluation zurückgegeben haben: bitte bringen Sie den Zettel am Montag mit oder legen Sie ihn in mein Fach im GWZ. Es ist mir wichtig, von Ihnen eine kurze Rückmeldung zu bekommen, damit ich auf Einwände und Verbesserungsvorschläge zu Seminarstil und Arbeitsformen in der zweiten Semesterhälfte eingehen kann.

Ludwig Renn

Hier kommt das, wie ich finde, sehr gelungene Thesenpapier der Renn-Vorbereitungsgruppe.

Einen besinnlichen ersten Advent wünscht
Ihre
Silke Horstkotte